Laudatio für Dieter Joachim Jessel

Ausstellungs-Eröffnung VANITAS
am 05. September 2021
Richard Haizmann Museum
Museum für Moderne Kunst in Niebüll

Sprache ist die einzige Möglichkeit des Menschen sich über Kunst verständigen zu können.
Erst der Betrachter macht die Kunst zur Kunst.
Sprachwissenschaftlich geschieht dies im Spannungsfeld von Künden, Können und Kennen. Jessels Kunst ist eine Verkündung, totale Kommunikation, Totalität. Was sie vermittelt, mitteilt ist weit mehr - und Wesentlicheres als alltägliche Zweckinformation. Als Kennen vermittelt sie Wissen und Theoretisches, als Können Geschicklichkeit und altmeisterliche Technik. Seine Kunst verkündet nicht nur Inhalte des betreffenden Oberbaus, sondern etwas vom Gehalt des endothymen Grundes, nämlich Intuition, Ahnung, Symbolik und Weltinnenschau. So wählt er bewusst für seine Ausstellung Überschriften, die diese Problematiken einfangen.

SURREALE WELTEN (im Schatten der Asche) für seine Ausstellung im Schloß vor Husum im September/November 2009.
VANITAS für seine Ausstellung in Niebüll.

Jessel steht gegebn den allgemeinen Erklärungs- und Verstehungswahn und setzt auf eine Welt der Geheimnisse und erklärbare Überkomplexe.

Surreal heißt für ihn eine Realtität, die über die Realität hinausgeht, die vielleicht Kommendes imaginiert, wie etwa bei MICHAEL, dem Erzengel, der mit den Stigmata des Vergehens und den Knochen der Verstorbenen aufrecht steht, schreitet er in eine imaginäre andere Welt.
Wie könnte man Ressurektion besser bildnerisch darstellen?
Der Einbruch der Surrealität in die Realität findet täglich statt - wenn auch nicht so malaerisch dargestellt.
VANITAS Darstellungen mit Totenschädel und Skelett findet man schon in den profanen Wandmalereien der Antike, in Rom und Ponpeji. Oft mit der Unterschrift versehen: Nosce te ipsum (Erkenne dich selbst). Das spielerische, tänzerische Element, das zur Verzierung der Groteske führt ist keinesfalls dem Vergeblichkeits- und dem Vergänglichkeitsgedanken inhärent, aber es ist kreativ udn tief ambivalent. Der Tod wird in der christlichen, europäischen Kunst sogar gelegentlich als Liebhaber dargestellt. Die Erotisierung des Todes ist oft religiös verbrämt. Siehe auch den begriff des petit mort für den Orgasmus, siehe auch Jessels Carne vale. Die Dekonstruktion des Lebens mündet bei Jessel häufig in der Ressurektion. Seine Bilder addieren keine neubarocken Gebrauchsmöbel, sondern fordern Einlassen, Einlesen in eine spezifische Bildsprache.

Die Kürze unseres Lebens, unsere primäre Lebenszeit ist endlich.
Jedermanns gewisseste Zukunft ist sein Tod.
Deshalb zwingen sich viele zur Schnelligkeit in der Benutzung der geborgenen Zeit.

Dieter Joachim Jessel mahnt zum Nachdenken, zum Überdenken, nicht zum Verharren, aber zum Weiterdenken über das Ungewisse, was danach kommen mag. Er malt etwas, was stofflich nicht existiert, nämlich die Seele, die der Betrachter assoziativ hinzufügt.
Er lässt im offizell Nichtigen das Geltende und dadurch das offiziell Geltende nichtig werden.
Die Einsicht, die das Verhältnis des Menschen zu seinem tyrannischen Alltag, den er als Verskalvung und als Entkernung seines Wesens empfindet, klingt überall an - eigentlich in jedem Bild.
Diese Botschaften sind nicht zwangsläufig stoisch oder christlich, sie können in monotheistischen und polytheistischen Religionen verankert sein, da sie allgemein menschliche Urängste ausdrücken.

Eine Frage bleibt für Dieter Joachim Jessel und uns alle:
Warum waren menschen im vorigen Jahrhundert psychisch bereit zu zwei Weltkriegen?

Als Kind erfährt er alle Facetten eines modernden Krieges, Vergänglichkeiten, Sinnwidrigkeiten, Gewalt, Dekonstruktion des Lebens - dies alles hat NArben, Brandnarben in seiner Seele hinterlassen, PTBS.
Für das Weiter- und Überleben gibt es entweder das Verdrängen oder die Erinnerungsarbeit.
Die mnestische Erfahrung Jessels hilft ihm beim Hinterfragen der Problematisierung der gegebenen Ordnung und kann zur Verfügbarmachung in krisenhafter Selbsterfahrung gereichen.

Ein anderer Teil der Persönlichkeitszüge des Künstlers sind Ordentlichkeit, Genauigkeit, Gewissenhaftigkeit und Perfektion. Diese Kombinationen mit Kreativität vernunden können nur durch Ambiguitätstoleranz in einer Person vereint sein, also der Fähigkeit in einer problematischen unübersichtlichen Situation zu existieren und trotzdem unvermindert an deren Überwältigung zu arbeiten.
Das provozierte Malen, die assoziativen Verschachtelungen von Mikrokosmen zu surrealen Welten fassen die Seele an, wie eindrucksvoll in der Versuchung des heiligen Antonius.
Die ständig vertinnende Zeit führt den menschen immer schneller an eine durch Hybris nicht zu verändernde drohende Endlichkeit.

Hier gibt Dieter Joachim Jessel eine wirklich wunderbare bildnerische Antwort.